Kindheit im Jahr 2050 – Wachsen unsere Kinder endlich ohne Rollenklischees auf?

Mädchen spielen gern mit Puppen, Jungs mit Autos. Angeboren oder anerzogen, fragen sich viele Eltern. Almut Schnerring ist Sprecherzieherin (DGSS), Kommunikationstrainerin und Autorin. In ihrem Buch „Die Rosa-Hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rollenklischees“ (Verlag Antje Kunstmann) sowie in Vorträgen und Workshops legt sie die Zusammenhänge zwischen Geschlechterrollenklischees im Alltag von Kindern und der Gleichstellungsthematik der Erwachsenenwelt dar.

Ist geschlechtsspezifisches Verhalten angeboren?

Bei dieser Frage wird ja gerne das Testosteron angeführt – vor allem, wenn es um den angeblich höheren Bewegungsbedarf von Jungen geht. Tatsache ist: Jungen und Mädchen haben vor der Pubertät gleich viel Testosteron im Blut, nämlich praktisch gar keines. Inwiefern sich das Sexualhormon überhaupt auf unser Verhalten auswirkt, ist nicht ausreichend erforscht. Wir wissen dagegen – da ist sich die Hirnforschung einig –, dass sich unser Gehirn und damit unser Denken durch das Leben selbst, durch unser Verhalten verändert. Das Gehirn eines Pianisten sieht deshalb anders aus als das einer Marathonläuferin. Bei erwachsenen Gehirnen finden sich daher natürlich auch Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Mir ist dieser Blick zurück jedoch zu einfach. Denn wenn wir uns weniger enge Rollenvorgaben für unsere Kinder wünschen, scheint es mir hilfreicher, nach vorn zu schauen und zuallererst die Rahmenbedingungen für die nächste Generation zu verändern. Schließlich gab es noch nie eine Welt, in der die Regeln für Mädchen und Jungen dieselben gewesen wären. Schauen wir doch einmal, ob das, was manche heute für „natürlich“ oder „angeboren“ halten, immer noch eintrifft, wenn wir Kindern offener begegnen und für eine echte Wahlfreiheit sorgen, unabhängig vom Geschlecht.

Inwieweit beeinflussen Rollenklischees die Entwicklung eines Kindes?

Das Klischee vom „echten“ Kerl und vom „richtigen“ Mädchen mag übertrieben oder auch lustig gemeint sein. Doch wir unterschätzen die Wirkung von Werbung und immer wiederkehrenden Kommentaren Erwachsener, wenn wir glauben, Kinder blieben davon unbeeindruckt. Wenn ein Kind spürt, dass sein Verhalten oder seine Interessen nicht zu dem passen, was die Umwelt als „typisch männlich“ bzw. „weiblich“ definiert, gerät es in Konflikt. Kinder wollen keine Außenseiter, sondern „richtig“ sein, sie wollen dazugehören zur Gruppe, mit der sie sich gerade identifizieren. Wenn ein Junge, der gerne tanzt, irgendwann im Lauf der Grundschulzeit die Kommentare der Freunde und Erwachsenen nicht mehr aushält und vom Ballett zum Fußball wechselt oder wenn eine 14-Jährige dem Druck des aktuellen Schönheitsideals nicht mehr standhält, das ihr täglich auf Werbeplakaten, in Filmen, in Castingshows vermittelt wird, und meint, abnehmen zu müssen, dann frage ich mich schon, wie so viele Eltern auf die Idee kommen können, gendersensible Pädagogik würde Kinder verbiegen oder gleichschalten. Die Mehrheit geht ja davon aus, wir würden Kinder gleichwertig oder gar neutral erziehen, tatsächlich ist das aktuell gar nicht möglich.

Wie ist es möglich, diese Klischees zu überwinden, damit es in Zukunft ein gleichwertiges Miteinander der Geschlechter gibt?

Indem wir uns bewusst werden, dass wir Unterschiede machen und unsere Erwartungshaltung gegenüber Söhnen eine andere ist als gegenüber Töchtern. Indem wir uns klarmachen, dass Kinder in ihrer Entwicklung eingeschränkt werden, wenn ihre Umwelt eine enge Vorstellung davon hat, wie sich ein richtiger Junge, ein richtiges Mädchen verhält. Dann können wir unsere Entscheidungen leichter hinterfragen und auf so manchen Kommentar vielleicht einfach verzichten.

Wo sehen Sie persönlich derzeit das dringendste Verbesserungspotenzial?

Ich denke, wir sollten dringend die Grenzen dessen, was wir als „normal“ akzeptieren, hinterfragen und die Schubladen, in die wir andere stecken, weiter offen lassen – Veränderung erlauben, ohne sie gleich zu bewerten. Das gilt für unsere in den letzten Jahren enger gewordene Einteilung in Rosa und Hellblau, aber natürlich auch für andere Kategorien wie Herkunft, Klasse, Alter etc. Wäre es nicht für alle von großem Vorteil, wenn wir davon ausgingen, dass bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen nicht männlich bzw. weiblich sind, sondern einfach menschlich?

 

Illustration: Daphne Braun