Erziehung in Frankreich

Erziehung in Frankreich – Sind Französinnen die besseren Mütter?

Haben französische Eltern ein Geheimrezept? Oder ist es nur ein moderner Mythos, dass Erziehung in Frankreich besser funktioniert? Unsere Autorin lebt mit Mann und Tochter seit langem in Paris und räumt mit einigen Vorurteilen auf.

Von Doris Barbier

Als die ehemalige Justizministerin Rachida Dati vier Tage nach der Geburt ihrer Tochter in High Heels und gertenschlank durch das Eingangsportal des Élysée-Palastes zur Ministerratssitzung stolzierte und lächelnd vor der Fotografenriege posierte, schwirrten mir ganz plötzlich unzählige völlig unkontrollierbare Gedanken durch den Kopf. Ich stellte mir kurz die Frage: „Sind Französinnen vielleicht doch die besseren Mütter?“ Und genauso schnell schoss mir eine – vorsichtig formulierte – Antwort durch den Kopf: „Ich wage es zu bezweifeln!“

Erziehung in Frankreich
Rachida Dati, ehemalige Justizministerin und Sprecherin von Nicolas Sarkozy, sorgte 2009 für Schlagzeilen als sie nur vier Tage nach der Geburt ihrer Tochter Zohra an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte. @gettyimages

Auch in Frankreich sinkt die Geburtenrate

In Frankreich, wo die Geburtenrate seit Jahren europaweit weit vorne liegt, herrscht leichte Panikstimmung: Seit 2015 werden weniger Kinder geboren, heute liegt die Rate bei 1,88 Kindern pro Französin. Trotzdem gilt es hier immer noch als absolut normal, dass frau drei Monate nach der Geburt – 87 Prozent aller Französinnen entbinden übrigens mit Periduralanästhesie – wieder am Schreibtisch sitzt und das Baby abgestillt ist. Dass der frischgebackene Erdenbürger mit Petit-Bateau- oder Bonton-Höschen ausgestattet ist, gehört ebenso zum normalen Szenario wie die Tatsache, einen bilingualen Babysitter für abends engagiert zu haben, um mit seinem Chéri, dem Kindesvater, genau wie vor der Geburt einmal wöchentlich ein neues Gourmetlokal zu testen (ich spreche für Paris!).

Ersteres habe ich geschafft, bei Punkt zwei bin ich gescheitert. Was auch noch absolviert werden muss, bevor man in den Berufsalltag zurückkehrt: ein Thalassotherapieaufenthalt am Atlantik (Bretagne oder Normandie) mit Beauty-Treatments für junge Mütter. Auch da musste ich persönlich passen, ich fand den Alltag mit meinem Baby viel spannender und hätte Schlammpackung & Co. vor Sehnsucht und wegen tiefer Schuldgefühle ohnehin nicht genießen können. Generell gilt: Schuldgefühle sind der Französin fremd.

Erziehung in Frankreich: Wo liegt der Unterschied?

Die in Paris lebende amerikanische Schriftstellerin Pamela Druckerman hat vor ein paar Jahren mit ihrem amüsant geschriebenen Erlebnisbericht „French Children Don’t Throw Food“ einigen Staub aufgewirbelt. Die ehemalige Wallstreet-Journal-Korrespondentin lebt mit ihrem britischen Ehemann und drei Kindern in Paris. In ihrem autobiografischen Buch lobt sie den Erziehungsstil à la française, der ihrer Meinung nach am heimischen Küchentisch beginnt. Warum werfen französische Kinder im Restaurant nicht mit Essen um sich, schlürfen mit fünf Jahren Austern, sagen immer höflich „Bonjour!“ und lassen auch ihre freiberuflich tätigen Mütter in Ruhe telefonieren? Und warum schlafen die Babys schon mit zwei oder drei Monaten durch?

Laut Druckerman machen französische Eltern einiges anders und manches besser. Die Realität sieht ein bisschen anders aus und Pamela Druckerman ist womöglich auf einen Mythos hereingefallen: Auch in Paris sind Krippenplätze rar, zwei Drittel aller Kinder unter drei Jahren werden zu Hause betreut, von der Oma, der Mutter (gilt für alle Freiberuflerinnen) oder einer Tagesmutter. Die Hausarbeit wird in Frankreich in 90 Prozent aller Fälle von den Frauen verrichtet, 62 Prozent aller Französinnen mit Kindern unter sechs Jahren arbeiten Vollzeit, trotzdem ist noch heute die Kluft zwischen den Geschlechtern beim Gehalt besonders groß.

Im Gender Gap Index schneidet Frankreich noch schlechter ab als Deutschland

Der vom Weltwirtschaftsforum erstellte Gender Gap Index beweist: 2012 landete die „Grande Nation“ auf dem 57. Rang, Deutschland hingegen auf Platz 13. Die „neuen Väter“, die Windeln wechseln, Meetings vormittags ansetzen, zum Kinderarzt gehen oder gar abends kochen, gibt es kaum, und zwar aus einem ganz banalen und ziemlich unromantischen Grund: Die Working Dads bringen mehr Geld nach Hause als ihre Frauen. Ich wage sogar zu behaupten, was der Starphilosoph Bernard-Henri Lévy auch gerne ungeniert öffentlich postuliert: Frankreich ist eine Machonation. Frankreichs Paradeemanze Simone de Beauvoir („Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“) hat offensichtlich gewusst, warum sie kinderlos geblieben ist.

Die Erziehung der Kinder übernimmt ab dem dritten Monat der Staat

Die Geheimnisse der Erziehung à la française kann ich dagegen etwas entzaubern. Französische Eltern lassen ihre Kinder auch mal schreien, um am nächsten Tag für den Arbeitsalltag fit zu sein, und bringen sie gezwungenermaßen auch mit Fieber in die crèche (Krippe), um ihren Job nicht zu verlieren. Was auch zum Kulturgut gehört und folglich, ohne mit der Wimper zu zucken, akzeptiert wird: Die Erziehung übernimmt im Alter von drei Monaten der Staat – zuerst das Personal in der Krippe oder die Tagesmutter, dann die Lehrer.

Französische Eltern haben wenig Zeit, Helikoptermütter sind rar

Meine Tochter war zehn Monate alt, als ich, damals noch im Angestelltenverhältnis und nicht wie heute freiberuflich tätig, wieder in den beruflichen Alltag einstieg und sie jeden Morgen schweren Herzens bei ihrer Tagesmutter ablieferte. Ich galt als Exot. Meine Freundinnen aus der Geburtsvorbereitung saßen schon längst alle wieder french manikürt im Büro und waren etwas besorgt um mich. Nur meine schwedische Freundin klopfte mir aufmunternd und solidarisch auf die Schultern. Fazit: Im Park sitzen wochentags nur Tagesmütter, wer etwas länger zu Hause bleiben will, fühlt sich schnell isoliert. In einem Land, wo der Satz der berühmten Kinderärztin und Psychoanalytikerin Françoise Dolto „Es ist nicht wichtig, wie viel Zeit man mit seinem Kind verbringt, sondern wie“ zum Evangelium gehört, sind Helikoptermütter rar.

Françoise Dolto ist es wiederum auch zu verdanken, dass in Frankreich auf den Dialog mit Kindern viel Wert gelegt wird. Konversation wird nicht nur bei Tisch großgeschrieben, sondern auch beim Arzt oder beim Kinderfriseur. Noch bevor sie sprechen können, werden Kinder in der Gesellschaft als vollwertige Gesprächspartner angesehen. Dolto, die den französischen Erziehungsstil in den 1970er-Jahren revolutioniert hat (alle meine französischen Freundinnen haben zumindest ein Buch von ihr im Regal stehen) und noch heute als DIE Referenz gilt, pflegte schon mit Neugeborenen heilende Gespräche zu führen und zu predigen: „Hört den Kindern zu, nehmt ihre Wünsche ernst.“

Bereits mit drei geht es in Frankreich in die Schule. Hier werden vor allem gutes Benehmen und Disziplin groß geschrieben. @Jay Boivin, gettyimages

In die Schule geht es bereits mit drei Jahren

Auch das französische Schulsystem unterscheidet sich vom deutschen. Im zarten Alter von drei Jahren heißt es in Frankreich erstmals „Schluss mit lustig“. Um es gleich vorwegzunehmen: Der Esprit der École maternelle liegt Lichtjahre vom deutschen System entfernt. Der einzige gemeinsame Nenner ist die Tatsache, dass auch in der École maternelle Kinderlieder gesungen werden. Kleine Frenchies lernen mit fünf lesen, schreiben, rechnen. Für Eltern lautet die Devise generell „Eintritt verboten“. Sie müssen ihre lieben Kleinen am Eingangstor abgeben (um die Trennung zu vereinfachen). Meine Tochter konnte dem herkömmlichen System entrinnen. Wir (mein französischer Mann und ich) haben uns für die Montessorischule einige Straßen weiter entschieden. Eine weitere Kompromisslösung, die man als Ausländer in Frankreich zu schätzen weiß.

Der Alltag der Kinder in Frankreich ist komplett verplant

Franzosen sind Individualisten, eine zusätzliche Folge der frühen Abnabelung. Wer schon mit drei Monaten lernen muss, sich von Montag bis Freitag zwischen 8 und 18 Uhr gegen eine Horde anderer quäkender Leidensgenossen durchzusetzen, hat spätestens im zarten Alter von 18 genug vom Leben in der Gemeinschaft, wo man bekanntlich zurückstecken muss. Kann man irgendwie keinem übel nehmen, oder? Wenn man einen Blick auf den Stundenplan eines 14-jährigen Schülers wirft, bekommt man Schwindelgefühle.

Der Durchschnittsalltag eines Collégiens beginnt um 8 und endet um 18 Uhr, an manchen Tagen ist den Schülern nur eine halbe Stunde Mittagspause vergönnt. Am Nachmittag stehen nicht Sport oder Werken, sondern Deutsch, Physik oder auch eine Doppelstunde Geschichte auf dem Programm. Am Freitagnachmittag beispielsweise ist bei meiner Tochter eine Doppelstunde Mathe von 16 bis 18 Uhr angesagt. Und als Dreingabe stehen am Samstag jede Woche von 8 bis 12 Uhr Klausurarbeiten auf dem Stundenplan.

Wochenende bye-bye. Um Punkt sieben Uhr früh sitzen mein Mann und ich jeden Samstag startbereit und, ich gestehe, nicht immer voller Tatendrang mit ihr am Frühstückstisch. Ein bisschen elterliche Solidarität muss schon sein. Meine gut informierten deutschen, französischen und österreichischen Freundinnen wissen schon, dass ich notgedrungen zum Frühaufsteher geworden bin, und lassen ihre Handys beinhart abgeschaltet, nachdem ich einige Male naiv versucht hatte, mit der einen oder anderen morgens gegen halb acht Dinge zu besprechen.

Französische Eltern schätzen Disziplin und gute Noten

In die Schule meiner Tochter, eine stinknormale katholische Privatschule im historischen Maraisviertel, die abgeriegelt ist wie ein Gefängnis für Schwerverbrecher, kommt man übrigens nur rein, wenn der Pförtner das Carnet de Correspondance (Mitteilungsheft) gegengezeichnet hat. Die letzte Austauschschülerin meiner Tochter kam aus Berlin und war gelinde gesagt ein bisschen schockiert. Noch schockierter war allerdings meine Tochter beim Gegenbesuch, nachdem sie die Gepflogenheiten an der Berliner Schule entdeckt hatte. Ein helles, weit offen stehendes Gebäude, in das jeder, egal ob Lehrer oder Schüler, raus- und reindurfte, wie es ihm gefiel, ein Schulhof mit Rasen und echten Bäumen und eine Kantine, in der es Bioessen gab.

Das französische Schulsystem zeichnet sich durch seinen autoritären Charakter aus. Ziel ist nicht die Entfaltung der Fähigkeiten oder Talente des einzelnen Kindes (die Klassen sind groß, oft doppelt so groß wie in anderen OECD-Ländern), sondern das Erlernen sozialer Umgangsformen und guter Manieren, sprich: sich einzuordnen und im Unterricht nur dann zu melden, wenn man die richtige Antwort parat hat. Dies erklärt auch die mangelnden Fremdsprachenkenntnisse der meisten Franzosen.

Disziplin wird im Schulsystem der „Grande Nation“ großgeschrieben, französische Eltern stehen auf Drill und gute Noten. Nach dem Bac (Abitur) wartet die Grande école (Eliteschule). Am Wochenende sind die Boums (Partys) dafür umso „ausgelassener“. Aus sicherer Quelle hat man mir bestätigt, dass es nur harte Getränke und nichts zu essen gibt (auch für erprobte Trinker eine Herausforderung, geschweige denn für gestresste 15-Jährige).

Zu meiner Beruhigung halte ich mir immer vor Augen, dass in allen französischen Collèges ein Erste-Hilfe-Kurs abgehalten wurde. Und ich bin immer wieder über die Coolness der Gasteltern erstaunt, die an diesen speziellen Boum-Wochenenden prinzipiell das Weite suchen. Mir persönlich sind meine weißen Wände heilig. Bin ich egoistisch? Meine Tochter lebt noch. Sie ist 15, normalgewichtig, raucht nicht und trinkt ab und an mit uns zu speziellen Anlässen ein Gläschen Champagner. Sie will Medizin studieren, Spezialgebiet: Kinderpsychiatrie.

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Bilder: Gettyimages (3)